Fr, 20.10.2023
700.000 Wohnungen fehlen, aber die Immobilienpreise sinken

Ist der Immobilienmarkt außer Kontrolle? Prof. Dr. Jan Viebig teilt seine Expertise und beleuchtet das Phänomen der sinkenden Preise bei scheinbar hoher Nachfrage und die Hintergründe dieses paradoxen Markttrends.

Warum sinken die Preise für Wohnimmobilien trotz hoher und kontinuierlicher Nachfrage?

„Wohnraumbedarf“ ist etwas anderes als Nachfrage. Der Bedarf an Wohnraum ist nach wie vor hoch. Doch der Bedarf äußert sich nicht als Nachfrage. Erstens sind die Baukosten immens gestiegen, was potenzielle Käufer aus dem Markt drängt. Zweitens hat die Bundesregierung im Vorfeld des Heizungsgesetzes für Verunsicherung gesorgt. Die Angst vor unkalkulierbaren Sanierungskosten haben bei Bestandsimmobilien zu Preisabschlägen geführt. Drittens lastet der deutliche Zinsanstieg auf dem Immobilienmarkt. Für den Käufer sind die Finanzierungskosten Teil des Preises: steigen letztere, entsteht Druck auf den Kaufpreis. Oder aus Sicht eines Immobilieninvestors: Investoren müssen die Rendite eines Objekts mit den Finanzierungskosten bzw. der Rendite alternativer Anlageinstrumente vergleichen. Wenn die Marktzinssätze von 0 auf 3 bis 4 Prozent steigen, muss eben auch die Immobilienrendite deutlich höher ausfallen, um attraktiv zu sein. Dafür muss der Preis fallen.

Welche Rolle spielt die Europäische Zentralbank und ihre Zinspolitik in der aktuellen Situation auf dem Immobilienmarkt?

Die Zinspolitik der Europäischen Zentralbank dürfte einen wichtigen Anteil an der Verschärfung der Lage am Immobilienmarkt haben. Die rasche Anhebung der Leitzinssätze bis auf aktuell 4 beziehungsweise 4,5 Prozent schlägt sich unmittelbar in den Hypothekenzinssätzen und anderen Kreditzinssätzen nieder. Allerdings ist es nicht Aufgabe der EZB, den Immobiliensektor zu beschützen, sondern für Preisstabilität zu sorgen. Änderungen des Zinsumfelds gehören zu den normalen Geschäftsrisiken am Immobilienmarkt.

Wie korrelieren demografische Entwicklungen und Migrationstrends mit der aktuellen Lage auf dem Wohnungsmarkt?

Aktuelle Schätzungen kommen zu dem Ergebnis, dass in Deutschland rund 700.000 Wohnungen fehlen. Hintergrund des hohen Bedarfs ist zum einen die starke Zuwanderung der letzten Jahre, zum anderen der steigende Wohnflächenbedarf der einzelnen Haushalte. Zudem konzentriert sich der Wohnraumbedarf besonders in den Metropolregionen. Allerdings fehlt es vielen Interessenten an der Finanzkraft, sodass die effektive Nachfrage nach (Kauf-)Immobilien nachgelassen hat. Auf mittlere bis längere Frist droht aufgrund der aktuellen Konstellation die Gefahr, dass die Mieten (weiter) kräftig steigen, da sich aufgrund der geringeren Neubautätigkeit die Engpässe am Markt verschärfen.

Wie könnten kurzfristige politische Interventionen aussehen, um den Wohnungsbau anzukurbeln, ohne bestehende Klimaziele zu gefährden?

Die Planungs- und Genehmigungsprozesse in Deutschland sind zu komplex und kostspielig. Die Regierung sollte klare, verständliche Förderprogramme auflegen. Insbesondere die ständig geänderte Förderpolitik durch die KfW haben viele Bürgerinnen und Bürger als Chaos wahrgenommen. Die Förderbestimmungen zum KfW-Effizienzhaus 40 sind zu komplex. Das Gebäudeenergiegesetz hat zu unnötiger Verunsicherung geführt. Die Digitalisierung der Planungs- und Genehmigungsverfahren wird seit Jahren verschleppt.

Eine verlässliche Förderung und längere KfW-Zinskonditionen sind notwendig, damit in Deutschland nicht 200.000, sondern 400.000 Wohnungen pro Jahr gebaut werden. Der Staat könnte zudem steuerliche Impulse setzen. So würde eine Senkung der Mehrwertsteuer oder der Grunderwerbssteuer Wohnraum günstiger machen. In einigen Bundesländern fallen über 6 Prozent Grunderwerbssteuer an. Durch degressive Abschreibungsmöglichkeiten könnte die Bautätigkeit angeregt werden. Bauministerin Geywitz könnte hier noch viel mutiger werden. Die Umwandlung von Büroimmobilien in Wohnimmobilien sollte von staatlicher Seite nicht erschwert, sondern erleichtert werden.

Alles, was die Bautätigkeit dämpft, sollte überprüft werden. Kurz: Weniger Bürokratie, verständlichere Förderprogramme und eine geringere Steuerbelastung können die Bautätigkeit auch in Zeiten von hohen Zinsen und steigenden Baukosten anregen.

Quelle: FOCUS online